Equirectangulare Projektion des videografierten Klassenraums

Hierbei handelt es sich um das Abstract eines Beitrages, der Ende des Jahres 2023 im Journal Transfer „Forschung  <-> Schule“ (Ausgabe 9) der Pädagogischen Hochschule Tirol erscheint. Davor werden erste Ergebnisse und Rückschlüsse auf der Media & Learning Conference 2023 in Leuven vorgestellt.

Entwickeln expertisebasierter Orientierungshilfen in sphärischen Räumen mittels Eye-Tracking und Retrospective Thinking Aloud

 

Professionelle Unterrichtswahrnehmung ist laut Seidel et al. (2010) und Sherin & van Es (2009) das selektive Wahrnehmen von Ereignissen im Unterricht durch Lehrkräfte – verbunden mit dem Zurückgreifen auf Kenntnisse für deren Interpretation. Nicht erst seit den “großen Videosurveys der 90er Jahre” (Aulinger et al., 2022, S. 113) wird deutlich, dass der Einsatz von Videovignetten für eine umfangreiche Kompetenzentwicklung Vorteile haben kann. Durch die wiederholbare Abbildung von Unterrichtssituationen für (universitäre) Lehr-Lern-Settings zählt auch die Professionelle Unterrichtswahrnehmung zu diesen Befähigungen. Eine Herausforderung gilt es in diesem Zusammenhang jedoch zu bewältigen: die Überwindung der selektiven Vorauswahl. Denn unabhängig von Planungen, Umsetzungen sowie Aufbereitungen von videografiertem Material wird das audiovisuelle Ergebnis stets einen „Filterungsprozess“ durchlaufen haben. Die finale Videovignette stellt immer einen fixierten Rahmen dar, in dem die Rezipient:innen nur bis zu einem gewissen Grad frei wahrnehmen können. Die Situationskontrolle liegt bei der herkömmlichen Videografie stets bei den Personen, die aufnehmen bzw. das Gesamt-Setting verantworten. Diese Gegebenheit gilt als Tatsache, die sich – bisher – als technisch eher alternativlos darstellte (Winscheid & Gold, 2022).

Wie würde sich jedoch ein Einsatz von Videovignetten auf die Förderung von professioneller Unterrichtswahrnehmung auswirken, wenn die Rezipient:innen plötzlich diese Situationskontrolle größtenteils selbst übernehmen könnten? Man stelle sich vor, Studierende können frei entscheiden, welche Interaktion sie innerhalb einer videografierten Unterrichtseinheit fokussieren bzw. welchem (Teil-)Geschehen sie folgen möchten. Welchen Effekt hätte dies beispielsweise auf die Förderung der selektiven Aufmerksamkeitssteuerung bzw. Wahrnehmung von Ereignissen im Unterricht (Sherin & van Es, 2009; Seidel et al., 2010)? Tatsache ist, dass eine diesbezügliche Kontrollverschiebung aufgrund aktueller technischer Entwicklungen realistischer geworden ist (Draghina et al., 2022).

In deren Auseinandersetzung mit der Planung und Erstellung von 360-Grad-Realaufnahmen konnten Draghina et al. Tendenzen feststellen, dass ein Einsatz solcher aufbereiteten Inhalte – abgesehen von einer hohen Authentizität bzw. Realitätsnähe – geeignet ist, um beispielsweise den Auf- sowie Ausbau von Forschendem Sehen (Reinmann et al., 2020) zu begünstigen bzw. zu unterstützen. Trotz der feststellbaren Vorteile im Bereich der Beobachtung und Identifizierung (u.a. Meinert & Tuma, 2022; Gold & Windscheid, 2022) muss dergestalt erstelltes Material aber zunächst einmal „behutsam“ etabliert werden, um wirken zu können. Studierenden der Lehrämter sollte die Fear of missing out 1 genommen werden; gleichzeitig gilt es, einen – bei 360-Grad-Inhalten ebenfalls möglichen – Cognitive Load 2 bestmöglich zu vermeiden. Des Weiteren gilt es mit Blick auf die Aus- und Fortbildung von Professioneller Unterrichtswahrnehmung Impulse zu geben, mit deren Hilfe Lehramtsstudierende das Beobachtete fundiert deuten und mit lernwirksamen Unterrichtskomponenten (Moser, 2017, S. 1) verknüpfen lernen. Hier schlagen Draghina et al. (2022) eine Art der lenkenden Unterstützung vor, die mittels eines Einsatzes von didaktisch motivierten Hotspots 3 innerhalb der aufbereiteten Videografie umgesetzt wird. Das Endprodukt kann von Studierenden immersiv 4 via Head-Mounted-Displays 5 oder equirektangular 6 über einen herkömmlichen Monitor rezipiert werden – ebenfalls mit allen Freiheiten, die das 360-Grad-Material bietet. Die verwendeten Hotspots wurden in einer anfänglichen Machbarkeitsstudie zunächst lediglich auf Basis der vorhandenen Vorerfahrungen bzw. des Wissens rund um die didaktische Aufbereitung von videografierten Bewegtbildinhalten eingefügt. Theoriegeleitete Überlegungen standen zunächst nicht im Fokus (ebd.).

Der einzureichende Beitrag fokussiert die forschende Auseinandersetzung rund um eine theoriegeleitete Platzierung sogenannter Orientierungshilfen in 360-Grad-Videografien; dies unter Einsatz einer innovativen Kombination von Expert:innentests mit Unterstützung von Eye-Tracking 7 und Retrospective Thinking-Aloud 8 – mit dem Ziel, die Vorteile dieser von 360-Grad-Realaufnahmen offerierten “überaus realistische(n) Eindrücke von der Unterrichtspraxis” (Gold & Windscheid, 2022, S. 167) für die Lehrkräfteausbildung verfügbar zu machen.

Mögliche Anreicherung des Materials durch Hotspots

Endnoten:

1 Dieser Begriff stammt ursprünglich aus der Sozialpsychologie und bezeichnet die gesellschaftliche Angst  von Menschen, etwas zu verpassen (Online Lexikon für Psychologie und Pädagogik. Verfügbar unter: https://lexikon.stangl.eu/17010/fear-of-missing-out-fomo Zuletzt aufgerufen: 07.10.2022). Breves & Heber (2020) beschrieben mit diesem Begriff die Sorge von Rezipient:innen, Geschehnisse zu verpassen, wenn diese in einem anderen Bildausschnitt stattfinden als in dem gerade betrachteten.

2 Die Cognitive Load Theory geht davon aus, “dass das menschliche Arbeitsgedächtnis den zentralen Engpass beim Wissenserwerb darstellt, während das Langzeitgedächtnis als hinsichtlich seiner Kapazität unbegrenzt aufgefasst wird. Eine zentrale Aufgabe beim Instruktionsdesign besteht daher darin, die Belastung des Arbeitsgedächtnisses möglichst gering zu halten” (Dorsch – Lexikon der Psychologie. Verfügbar unter: https://dorsch.hogrefe.com/stichwort/cognitive-load-theory-clt Zuletzt aufgerufen: 07.10.2022).

3 Unter Hotspots versteht man (farbliche) Markierungen im 360-Grad-Raum, über die zusätzliches audiovisuelles Material sowie Informationsboxen oder Weblinks verknüpft werden können (Draghina et al., 2022).

4 Immersion [spätlat. “Eintauchung”] bezeichnet die Empfindung eines verstärkten Präsenzerlebens durch den/die Rezipient:innen. Das Ausmaß ist stets davon abhängig, wie sehr die eingesetzte Technologie in der Lage ist, eine “einschließende, intensive, umfassende und lebendige Illusion der Realität zu liefern” (Huff, 2021).

5 Ein Head-Mounted Display („am Kopf befestigter Bildschirm“), kurz HMD, ist ein auf dem Kopf getragenes audiovisuelles Ausgabegerät, das Bilder unmittelbar vor den Augen der Rezipient:innen erzeugt. Auditive Informationen erfolgen i.d.R. über Lautsprecher innerhalb der Tragevorrichtung.

6 “Die sogenannte Rektangularprojektion, häufig auch als Plattkarte oder Gleichwinkelbild bezeichnet, stammt ursprünglich aus der Kartografie und beschreibt eine abstandstreue Zylinderprojektion” (Draghina et al., 2022, S. 16 f). In Verbindung mit 360-Grad-Videos bezeichnet es den Vorgang, diese als flaches 2D-Bild darzustellen.

7 Bezeichnet den Prozess, das Sehen von Proband:innen durch das Erfassen von Blickdaten wissenschaftlich zu untersuchen.

8 Diese Methode wird oft in Verbindung mit auszuwertenden Eye-Tracking Daten verwendet. Dieser kombinierte Ansatz hat sich als eine Möglichkeit erwiesen, reichhaltigere Daten von Proband:innen zu gewinnen. Sie ermöglicht es den Proband:innen ihre Blickdaten auf eine Weise zu reflektieren, die sie sonst möglicherweise nicht hätten tun können (Olsen et al., 2010).

Literaturangaben:

Aulinger, J., Körber, I. & Meyer, R. (2022). Unterrichtonline.org – Unterrichtsvideos für den Einsatz in der Forschung und Lehre. In: R. Junker, V. Zucker, M. Oellers, T. Rautenberg, S. Konjer, N. Meschede, M. Holodynski (Hrsg.), Lehren und Forschen mit Videos in der Lehrkräftebildung (S. 113-124). Münster, New York: Waxmann

Breves, P., & Heber, V. (2020). Into the wild: The effects of 360 immersive nature videos on feelings of commitment to the environment. Environmental Communication, 14(3), (S. 332–346).

Draghina, M., Vettermann, L., Geier, C., Fahrner, U., Strehl, B. & Bihler, T. (2022). Forschendes Sehen und Immersionspotentiale – Angereicherte 360-Grad Videos in der Aus- und Fortbildung von Lehrkräften. https://dx.doi.org/10.13140/RG.2.2.19945.57448

Gold, B. & Windscheid, J. (2022). 360°-Videos in der Lehrer*innenbildung – Die Rolle des Videotyps und des Beobachtungsschwerpunktes für das Präsenzerleben und die kognitive Belastung. In: J. Windscheid & B. Gold (Hrsg.), 360°-Videos in der Sozialforschung. Ein interdisziplinärer Überblick zum Einsatz von 360-Videos in Forschung und Lehre (S. 165-192). Wiesbaden: Springer VS.

Holodynski, M., Steffensky, M., Gold, B., Hellermann, C., Sunder, C., Fiebranz, A. et al. (2017). Lernrelevante Situationen im Unterricht beschreiben und interpretieren. In: Entwicklung von Professionalität pädagogischen Personals (S. 283–302). Springer.

Huff, M. (2021). Immersion. Dorsch – Lexikon der Psychologie. Online verfügbar unter: https://dorsch.hogrefe.com/stichwort/immersion [Zuletzt aufgerufen: 07.10.2022]

Meinert, L. & Tuma, R. (2022). 360°-Videoaufnahmen als Daten der Videographie – Zusammenhang von Aufzeichnung, Repräsentation und Forschungsgegenstand. In: J. Windscheid & B. Gold (Hrsg.), 360°-Videos in der Sozialforschung. Ein interdisziplinärer Überblick zum Einsatz von 360-Videos in Forschung und Lehre (S. 165-192). Wiesbaden: Springer VS.

Moser, G. (2017). Professionelle Unterrichtswahrnehmung und gezielte Beobachtung. URN: urn:nbn:de:0111-pedocs-130471 – DOI: 10.25656/01:13047

Olsen, A., Smolentzov, L., Strandvall, T. (2010). Comparing different eye tracking cues when using the retrospective think aloud method in usability testing. Conference Paper: Proceedings of the 2010 British Computer Society Conference on Human-Computer Interaction, BCS-HCI 2010, Dundee, United Kingdom, 6-10 September 2010. http://dx.doi.org/10.14236/ewic/HCI2010.8

Reinmann, G., Vohle, F., Brase, A., Groß, N., & Jänsch, V. (2020). Forschendes Sehen – Ein Konzept und seine Möglichkeiten. Impact Free – Journal für Freie Bildungswissenschaftler, 26, (S. 1–6). Online verfügbar unter: https://gabi-reinmann.de/wp-content/uploads/2020/02/Impact_Free_26.pdf [Zuletzt aufgerufen: 07.10.2022]

Seidel, T., Blomberg, G. & Stürmer, K. (2010). „Observer “-Validierung eines videobasierten Instruments zur Erfassung der professionellen Wahrnehmung von Unterricht. Zeitschrift für Pädagogik, 56, S. 296–306.

Sherin, M. G., & Van Es, E. A. (2009). Effects of Video Club Participation on Teachers’ Professional Vision. Journal of Teacher Education, 60, S. 20-37. https://doi.org/10.1177/0022487108328155

Windscheid, J. & Gold, B. (2022).  Einleitung. In: J. Windscheid & B. Gold (Hrsg.), 360°-Videos in der Sozialforschung. Ein interdisziplinärer Überblick zum Einsatz von 360-Videos in Forschung und Lehre (S. 1-5). Wiesbaden: Springer VS.